Cover Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber

Wählen





UTB 3015
Wien: Facultas 2008
ISBN: 978-3-8252-3015-9




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Inhalt

Einführung
Wahlen als Methode der Demokratie

Hauptteil
1   Wahldemokratien
2   Wahlrechte
3   Wahlverhalten
4   Wahlsysteme
5   Abstimmen

Serviceteil
Glossar
Tabellenverzeichnis
Register




Wahlen als Methode der Demokratie

In welchen Situationen haben Menschen mit „Politik“ zu tun? Wann debattieren oder streiten sie über PolitikerInnen? Zu welchen Anlässen sind BürgerInnen direkt involviert, beteiligen sich an Politik? Die Antworten werden in vielen Fällen mit Wählen und Wahlen zu tun haben. Erstens weil Wählen als Beteiligungspraxis im Vergleich die quantitativ wichtigste und gleichzeitig auch sozial egalitärste politische Partizipationsform ist; und zweitens weil sich die politische Kommunikation auf Wahlen, Wahlkämpfe und -ergebnisse konzentriert. Wahlen bringen die Politik in die Wohnzimmer und an die Stammtische. So wird in Europa über Funktionsweisen des politischen Systems der USA insbesondere dann berichtet, wenn in New Hampshire die Vorwahlen für die Präsidentschaftswahlen stattfinden; so erfahren wir in Europa über politische und wirtschaftliche Entwicklungen afrikanischer oder zentralasiatischer Staaten vorwiegend dann, wenn Wahlergebnisse nicht den liberal-demokratischen Standards entsprechen, von der Opposition nicht anerkannt werden, Menschen auf den Straßen demonstrieren oder die Polizei gewaltsam Kundgebungen auflöst.

Wahlen, KandidatInnen und deren Images und Soundbites sind Anlass, über repräsentative Politik zu informieren, aber auch mit und durch Politik zu unterhalten. Wahlkämpfe und (erwartete) knappe Resultate lassen sich als Sportarena, in der PolitikerInnen und Parteien sich ein spannendes Wettrennen liefern, inszenieren und aufregend präsentieren. Wahlen machen die Professionalisierung von Politik in Flächendemokratien besonders deutlich. Im näheren Umfeld von politischen Parteien entwickelt sich für PolitikberaterInnen ein Arbeitsmarkt, in den hohe Summen öffentlichen und privaten Geldes fließen. KandidatInnen wiederum investieren viel Zeit, soziales Kapital und Ressourcen, um gewählt bzw. wiedergewählt zu werden. Wahldemokratien sind kostspielig, moderne Wahlkämpfe teuer. Tendenzen der Personalisierung und Inszenierung überlagern nicht selten die in Demokratietheorien formulierte primäre Aufgabe der öffentlichen Auseinandersetzung mit Positionen, Programmen und Themen. Was Wahlen demokratiepolitisch sollen, unterscheidet sich oft von dem, was WahlmanagerInnen und Massenmedien aus und mit ihnen machen (zu Wahlkämpfen siehe: Plasser 2003; Strohmeier 2001; Holtz-Bacha 2006; Imhof, Blum, Bonfadelli & Jarren 2006).

Wahlen – Wahlrechte und -systeme, Wahlmotive und -verhalten, Parteien und KandidatInnen – sind ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaften und Kulturen. Sie geben Auskunft über den Status quo der politischen Macht ebenso wie über Strukturmerkmale des Mediensystems, enthalten Informationen über gesellschaftlichen Wandel, bringen ökonomische, soziale, ethnische und kulturelle Konflikte zum Ausdruck, schlagen sich schließlich in Parteiensystemen nieder. Gesellschaftliche Stabilität und soziale Zufriedenheit sind in Wahlprozessen ebenso ablesbar wie Erosionen und Krisen. Mit anderen Worten: Die große Bandbreite an unterschiedlichen Wahlrechten, -systemen und technischen Prozeduren, die allein in den europäischen Staaten zu beobachten sind, ist nicht zuletzt ein Indikator ihrer Interessen- und Machtgebundenheit.

Und doch gelten faire und kompetitive Wahlen als Fundamente der liberalen, repräsentativen Demokratie (Katz 1997). Erst im Kampf der Wahlrechtsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts gegen Gottesgnaden- und Monarchentum setzte sich die Idee der Volkssouveränität als einzige Legitimationsquelle konstitutionell verfasster Politik durch. Demokratische Wahlen sind in großflächigen, pluralistischen Gesellschaften der Modus, mit dem politisches Führungspersonal ausgewählt und auf Zeit legitimiert wird, stellvertretend zu entscheiden. Der instrumentelle Charakter der Generierung und Kontrolle von politischen EntscheidungsträgerInnen durch faire und kompetitive Wahlen begründet den fundamentalen Unterschied zwischen Demokratie und autoritären bzw. totalitären Systemen (Lijphart 1999). Gleichzeitig erweist sich in zahlreichen Einwanderungsgesellschaften die Praxis der liberalen Demokratie aber als defizitär (Valchars 2006). Allgemeine, an die Staatsbürgerschaft gebundene Wahlrechte gewährleisten zunehmend weniger die Realisierung der Inklusion und Gleichheit – im Zuge von Migration und Mobilität wächst die Zahl der Menschen, die von der Möglichkeit der Teilhabe am politischen Prozess ausgeschlossen sind.


Aus welcher Perspektive betrachten diese Profile das „Wählen“? Welche theoretischen Zugänge leiten die Ausführungen zu diesem Thema, das einerseits gesellschafts- und machtpolitisch höchst relevant ist und andererseits am Image des allzu Technischen und der Zahlenspielereien leidet?

Dieses Buch will erstens eine konzise Einführung zum politischen Wählen sein. Die empirischen Verweise, die sich vorzugsweise auf Deutschland, Österreich und die Schweiz beziehen, dienen der Illustration der analytischen Gedankengänge. Der inhaltliche Zugang ist weniger durch die in der Wahlforschung üblichen Fragen wie „Wer gewinnt, wer verliert warum?“ oder durch Interessenlagen von politischen Parteien, PolitikberaterInnen und Meinungsforschung bestimmt, sondern er ist primär durch demokratiepolitische Konzepte und Probleme angeleitet. Intakte wie gestörte Beziehungen zwischen realen Demokratien bzw. Demokratiemodellen und kompetitiven Wahlen stehen im Mittelpunkt. Grundsätzlich schließen wir uns der Powell’schen Sichtweise von Wahlen als notwendigen Instrumenten in modernen Flächendemokratien an (Powell 2000) und thematisieren demokratiepolitisch relevante Aspekte des Wählens (wie Repräsentation, Responsivität, Verantwortlichkeit und Kontrolle), des erkämpften bzw. verweigerten Zugangs zu Wahlrechten, der Übersetzung von abgegebenen Stimmen in Mandate, Sitze und Regierungsmacht und der Bindung an gesellschaftliche wie ökonomische Spannungslinien und Entwicklungen. Dabei wollen wir konsequent auf die Interessengebundenheit von Wahlbestimmungen, d. h. auf den engen Zusammenhang von gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnissen und Wahlrechten, achten. Denn für Wahlbestimmungen gilt konstitutiv, dass PolitikerInnen und politischen Parteien die Spielregeln, auf deren Grundlage sie gewählt, legitimiert und kontrolliert werden, auch selbst beschließen. Daher ist es nicht überraschend, dass Wahlergebnisse nicht nur vom Wahlverhalten der WählerInnen abhängen, sondern auch von der Ausgestaltung von Wahlrechten und -systemen. In diese wiederum gehen neben taktischen Überlegungen auch demokratiepolitisch variierende Vorstellungen über Repräsentation von Gruppen und Individuen, Stabilität oder Effizienz ein.

Dieses Buch will zweitens einen Fokus auf Wählen als politische Partizipationsform legen. Der partizipatorische Blick erlaubt es, Wählen nicht primär als einen Modus der Stimmabgabe zu interpretieren, sondern wir orientieren uns an der Idee, eine Stimme zu haben, sie erheben zu können und deshalb gehört zu werden – d. h., mit Wahlmacht ausgestattet zu sein. Wahlberechtigte drücken mit ihrem Votum Interessen, Wünsche und Präferenzen aus, erheben also ihre Stimme. Mit dem allgemeinen Wahlrecht war im 19. Jahrhundert die Hoffnung auf politische Emanzipation und soziale Gerechtigkeit verbunden, heute ist mit politischen Rechten meist auch ein Mehr an Lebensstandard und materiellem Wohlstand verknüpft. Enttäuschen die Regierenden die Erwartungen der WählerInnen, dann gibt es in regelmäßigen Abständen die Möglichkeit zu sanktionieren, einen Regierungswechsel herbeizuführen, AmtsinhaberInnen abzuwählen.

Kurzum: Dieses Buch thematisiert Massendemokratien, die „Demokratie der Vielen“ also und wie diese Vielen durch den Wahlprozess mit der politischen Klasse, mit politischen Parteien und PolitikerInnen verbunden sind. Daraus leitet sich der Titel dieses Kompendiums ab – nicht Wahlen, sondern Wählen steht im Mittelpunkt, und demokratiepolitische Überlegungen, Chancen auf Emanzipation und Teilhabe ebenso wie Kritik an der wachsenden Exklusion aus der BürgerInnenschaft bestimmen den Inhalt.

Mit den Worten des die Volksbeteiligung und die Repräsentativregierung bereits früh verteidigenden liberalen Denkers John Stuart Mill, 1861 in Considerations on Representative Government formuliert, wollen wir einleitend schließlich zu bedenken geben: „Nothing else can be ultimately desireable than the admission of all to share in the souvereign power of the state“.



Zitierte Literatur

Holtz-Bacha, Christina (2006): Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2005. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Imhof, Kurt, Blum, Roger, Bonfadelli, Heinz & Jarren, Otfried (Hg.) (2006): Demokratie in der Mediengesellschaft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Katz, Richard S. (1997): Democracy and Elections. New York, Oxford: Oxford University Press.
Lijphart, Arend (1999): Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries. New Haven & London: Yale University Press.
Plasser, Fritz & Plasser, Gunda (2003): Globalisierung der Wahlkämpfe. Praktiken der Campaign Professionals im weltweiten Vergleich. Wien: WUV Universitätsverlag.
Powell, G. Bingham (2000): Elections as Instruments of Democracy. Majoritarian and Proportional Visions. New Haven & London: Yale University Press.
Strohmeier, Gerd (2001): Moderne Wahlkämpfe – wie sie geplant, geführt und gewonnen werden. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Valchars, Gerd (2006): Defizitäre Demokratie. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht im Einwanderungsland Österreich. Wien: Braumüller.



Kontakt

Sieglinde Katharina Rosenberger: sieglinde.rosenberger@univie.ac.at
Gilg Seeber: gilg.seeber@uibk.ac.at