II. DER NATIONALRATSWAHLKAMPF 2002 DURCH DIE BRILLE DER SONNTAGSFRAGE
Am späten Abend des Wahltages (am 24. November 2002) hat
das Rätselraten ein Ende, sind Wetten gewonnen, sind Wetten verloren. Der
"Wählerwille" ist in einem rechtlich klar definierten und
logistisch aufwendigen Verfahren ermittelt sehen wir einmal von den noch
nicht ausgezählten Wahlkarten und der Beilegung allfälliger
Auffassungsunterschiede bei der Zuordnung von Stimmen ab. In der Zuordnung von
Mandaten an die wahlwerbenden politischen Parteien manifestiert sich die
öffentliche Meinung auf sehr konkrete Weise, die politische Macht ist
verteilt.
Es ist auch der Zeitpunkt der schnellen Analysen des überraschenden
Ergebnisses vorgenommen vom "runden Tisch" der Journalisten im
TV wie auch von der Stammtischrunde im Wirtshaus ums Eck. Und auch die Zunft
der Meinungsforscher betritt nun ein weiteres Mal die mediale Bühne: Sie
hätten es ja eigentlich schon immer gewusst, es sich aber nur nicht zu
sagen getraut wobei es doch überraschend bis ärgerlich ist,
wenn etwa der professionelle Meinungsforscher Wolfgang Bachmayer das
WirtschaftsBlatt wissen lässt, dass sich der Vorsprung der
siegreichen ÖVP seit Wochen abgezeichnet habe, er aber den klaren Sieger
der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt habe, weil dies einen Eingriff in den
Wahlkampf bedeutet hätte.
Über weite Strecken des gut zehn Wochen lang dauernden Wahlkampfes waren
sich die im Auftrag von Printmedien tätigen Meinungsforschungsinstitute im
Großen und Ganzen einig: Es handelt sich um ein Kopf-an-Kopf-Rennen,
einmal liegt die eine Partei einige wenige Prozentpunkte voran, dann wieder die
andere. Spannend ist es zudem in dreifacher Hinsicht: Die beiden großen
Parteien SPÖ und ÖVP liegen etwa gleich auf; die klein gewordene
FPÖ und die Grünen kämpfen Seite an Seite um Platz Drei; und
schließlich geht es um die nach den deutschen Bundestagswahlen nicht ganz
unaktuelle Frage, ob Rot-Grün die Mehrheit schaffen könne.
Das Ergebnis der Nationalratswahl vom 24. November 2002 hat dann eine klare und
eindeutige Antwort gebracht: Die ÖVP lag mit 42,3% der gültigen
Stimmen um 5,8 Prozentpunkte vor der SPÖ am erster Stelle; Rot-Grün
fehlten 6 Mandate für eine Mehrheit im Parlament; lediglich FPÖ und
Grüne trennte bloß die knappe Marge von einem halben Prozentpunkt.
Hatte die Meinungsforschung versagt, war sie von den Medien missinterpretiert
worden oder hatte das horse race ins taktische Kalkül der
Parteien gepasst? Könnte es sein, dass die Meinungsforschung im Wahlkampf
selbst zum Ersatzthema geworden war oder könnte sie gar, wie sich
Die Welt kritisch fragte, tatsächlich selbst imstande sein, die
Meinung der WählerInnen zu beeinflussen?
Zum Verlauf des Nationalratswahlkampfes liegen erste wissenschaftliche und
journalistische (Auer/Fleischhacker 2003; Beutelmeyer/Pfarrhofer/Seidl 2002)
Arbeiten vor. Dem Verlauf und der Mediatisierung des Wahlkampfes wird
insbesondere in Plasser/Ulram/Sommer (2003), Pallaver/Pig (2003),
Hofinger/Ogris/Thalhammer (2003) und Pichler/Scheucher (2003) Aufmerksamkeit
entgegen gebracht. Der Einsatz der Umfragen und des horse
race-Journalismus werden in diesen Analysen zwar angesprochen, doch gilt
der Fokus anderen Aspekten des Wahlkampfes und des Wahlergebnisses.
II.1 Die Sonntagsfrage
So weit sich politische Berichterstattung in Wahlkampfzeiten
auf demoskopische Befunde bezieht, geschieht dies zumindest in den
Printmedien, Radio und Fernsehen mögen da einer anderen medialen Logik
folgen sehr stark durch die Brille der Sonntagsfrage. Das Interesse gilt
in erster Linie der augenblicklichen Position der Parteien im Wettrennen um
Prozente und Mandate, dem Zwischenstand im horse race.
Die Sonntagsfrage wird gewöhnlich folgendermaßen oder ähnlich
formuliert: "Wenn am nächsten Sonntag Nationalratswahlen wären,
welcher Partei würden Sie da Ihre Stimme geben?" Sie soll zu
spontanen Nennungen der Parteipräferenzen der befragten Personen
führen und die so genannten "Rohdaten", die auch
Unentschlossene, Unwissende und Antwortverweigerer enthalten, liefern.
Berichtet werden in aller Regel die von den Instituten
"hochgeschätzten" Ergebnisse, die dadurch zustande kommen, dass
jene Personen, die selbst keine Wahlabsicht genannt haben, den einzelnen
Parteien zugeordnet werden. Wie diese Zuordnung geschieht, bleibt das gut
gehütete Geheimnis der Meinungsforschungsinstitute.
Vier österreichische Printmedien haben im Nationalratswahlkampf
wöchentlich über selbst in Auftrag gegebene Umfragen berichtet: Die
überregionale Tageszeitung Der
Standard hat dabei mit dem
market Institut in
Linz zusammengearbeitet, die Wochenmagazine
Format und
News mit den
Wiener Instituten OGM
und Gallup und die
politische Wochenzeitung profil mit dem Wiener
ISMA.
In diesem Kapitel werden ausschließlich publizierte Umfrageergebnisse
diskutiert und analysiert. Die Parteien haben für ihre strategischen
Zwecke eigene, viel genauere Umfragen durchgeführt, die jedoch in der
printmedialen Berichterstattung nicht vorgestellt wurden, sondern lediglich
gezielt und selektiv eingesickert sind (vgl. zu diesem Aspekt Kapitel V).
Schaubild II.1
Das Schaubild II.1 zeigt für alle vier Medien bzw.
Institute die veröffentlichten Schätzergebnisse im zeitlichen
Verlauf, ergänzt durch das Wahlergebnis am Ende der 47. Kalenderwoche. In
der x-Achse dieses Streudiagramms sind die Tage der
Veröffentlichung bzw. des Endes des Erhebungszeitraumes eingetragen, wobei
die Achse selbst mit der Kalenderwoche beschriftet ist. Die 37. Kalenderwoche
beginnt mit Montag, dem 9. September 2002, und die 47. Kalenderwoche endet mit
dem Wahltag, dem 24. November 2002. In die y-Achse werden nun die
prognostizierten Anteile für die Parteien eingetragen. Die Position eines
jeden Symbols in diesem Koordinatensystem bezeichnet also Zeitpunkt und
prognostizierten Anteil für die durch das Symbol charakterisierte Partei.
Zur leichteren Lesbarkeit werden die für eine Partei geschätzten
Anteile durch einen Polygonzug verbunden. Zum Vergleich ist das Wahlresultat in
die Grafik mit aufgenommen.
Auf den ersten Blick scheint sich das Bild eines
"Kopf-an-Kopf-Rennens" zu bestätigen, zumindest was die beiden
großen und die beiden kleinen Parteien betrifft: Die Abstände
zwischen den prognostizierten Werten schwanken zwar, bewegen sich aber mit
zunehmender Nähe zum Wahldatum innerhalb weniger Prozentpunkte, wenn man
von der 42. Kalenderwoche einmal absieht. Zudem scheinen sich die
Spitzenpositionen unter den direkten Konkurrenten immer wieder abzuwechseln.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Daten von verschiedenen
Meinungsforschungsinstituten und damit von unterschiedlichen Stichproben
stammen. Das mag der Grund für zumindest einen Teil der beobachteten
Fluktuationen sein. Schaubild II.2 versucht deshalb, einen zeitlichen Trend aus
den Daten zu filtern, indem es zufällige Schwankungen ausblendet und die
systematische Entwicklung während des Wahlkampfes so weit sie sich
durch die veröffentlichten Ergebnisse nachvollziehen lässt
durch die stark gezogenen Linien hervorhebt.
Schaubild II.2
Tatsächlich wird das Bild nun etwas klarer: Während
zu Beginn die SPÖ einen klaren Vorsprung zu verzeichnen hat, wird dieser
rasch kleiner ein Trend, der um die 42. Kalenderwoche ein wenig gebremst
wird, schließlich aber doch dazu führt, dass die SPÖ etwa zwei
Wochen vor der Wahl von der ÖVP überholt wird. FPÖ und
Grüne liegen während fast der gesamten Periode knapp beieinander. Die
sportliche Metapher des Kopf-an-Kopf-Rennens scheint also für diesen
Wahlkampf zu passen.
Die Schaubilder II.3 und II.4 sind im Prinzip wie Schaubild
II.1 aufgebaut. Sie zeigen in getrennten, aber gleich skalierten
"Panels" die Wettrennen der Großen und der Kleinen getrennt
nach Meinungsforschungsinstituten.
Schaubild II.3

Schaubild II.4
Bei OGM wechselt die Führung zwei Mal, bei
market im selben Zeitraum vier Mal. Gallup sieht die ÖVP bis
drei Wochen vor der Wahl stetig, wenn auch bald mit kleinem Abstand hinter der
SPÖ liegen. Bei ISMA fällt eine Schwächeperiode der
ÖVP zu Beginn der 42. Kalenderwoche ins Auge. Das tatsächliche
Wahlresultat verfehlen sämtliche in der letzten Woche
veröffentlichten Prognosen um mehrere Prozentpunkte. Drei der vier
Institute halten bis zum Schluss im Wesentlichen an der Darstellung eines
knappen Ausgangs fest.
market scheint am wenigsten an ein Kopf an Kopf-Rennen der kleineren
Teilnehmer zu glauben, sieht aber am Ende als einziges der vier Institute die
FPÖ vor den Grünen.
II.2 "Kopf an Kopf"?
Gestützt auf die von ihnen in Auftrag gegebenen Umfragen
haben die untersuchten Printmedien horse race-Journalismus betrieben und
sich in ihrer Berichterstattung auf ein äußerst knappes Rennen
eingeschworen. Damit sind sie zwar einer verbreiteten medialen Logik gefolgt
die Frage ist aber, ob die erhobenen Wahlabsichten der Österreicher
und Österreicherinnen damals tatsächlich ein so knappes Ergebnis
haben erwarten lassen.
Die Prognosewerte, also die "hochgerechnete" Sonntagsfrage, liefern
keine auch nur halbwegs verlässliche Basis zur Beantwortung dieser Frage
zu groß sind die Unsicherheiten, die in der Schätzung liegen.
Man hat also auf die Rohdaten zurückzugreifen und aus diesen Aussagen
über die Wahrscheinlichkeit der Kopf-an-Kopf-Situation abzuleiten.
Der Standard hat in (teilweiser) Übereinstimmung mit dem von
der ESOMAR, der
European Society for Opinion and Market Research, verabschiedeten Kodex
die von market erhobenen Rohdaten veröffentlicht. Sie
weichen zum Teil beträchtlich von den Prognosewerten ab, weil die Prognose
selbst Stichprobenschwankungen ebenso berücksichtigen muss wie den Anteil
der Unentschiedenen oder die unterschiedliche Bereitschaft zur Deklaration der
Wahlabsicht. (Wir werden diese methodisch-statistischen Aspekte im Kapitel III
genauer beleuchten).
market hat jede Woche telefonisch 400 Personen über 18 Jahre in
einer für die Bevölkerung repräsentativen Stichprobe befragt.
Die maximale statistische Schwankungsbreite wird mit ±5% angegeben.
Weitere Details, etwa über das Stichprobendesign, werden nicht genannt.
Schaubild II.5 illustriert die Anteile für die im Parlament
vertretenen Parteien, die Gruppe der NichtwählerInnen und die
Antwortverweigerer in den Rohdaten.
Schaubild II.5
Das in den Prognosewerten augenscheinlich knappe
Aneinanderliegen von SPÖ und ÖVP bzw. FPÖ und Grüne
lässt sich hier nicht erkennen; anders als in den Schätzwerten findet
man hier auch keine "Führungswechsel" im horse race.
Zur Präzisierung definieren wir: Eine Kopf-an-Kopf-Situation liegt dann
vor, wenn die beiden betrachteten Parteien (oder Lager) in der Wahlabsicht der
Bevölkerung und nicht der in der Stichprobe Befragten nicht
mehr als zwei Prozentpunkte auseinander liegen. Eine solche Situation wäre
also etwa mit 33% SPÖ und 35% ÖVP gegeben.
Es ist nun zu fragen, wie groß die Wahrscheinlichkeit für das
tatsächliche Vorliegen einer Kopf-an-Kopf-Situation im Lichte der
erhobenen Daten ist. Um das beantworten zu können, bedarf es
mathematisch-statistischer Verfahren, wie wir sie hier nicht weiter beschreiben
wollen (und wie sie beispielsweise in Gelman et al. 2004, 83 ff.
nachzulesen sind). Dargestellt ist die Antwort jedenfalls in Schaubild
II.6.
Schaubild II.6

Zur großen Überraschung ist festzustellen, dass
nach den von market erhobenen Daten ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden
großen Parteien zu keinem Zeitpunkt das wahrscheinlichere Szenarium
gewesen ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass ÖVP und SPÖ mehr als zwei
Prozentpunkte auseinander liegen, war stets größer als 50 Prozent.
Und erstaunlich ist, dass mit Ausnahme der 38. und der 42. Kalenderwoche die
Wahrscheinlichkeit für eine Führung der ÖVP sogar jeweils
über 80 Prozent gelegen ist.
Dabei ist zu bedenken, dass auch diese Zahlen nur Schätzungen sind, die
von der Annahme einer einfachen Zufallsstichprobe ausgehen. Andererseits ist
der relativ kleine Umfang von 400 befragten Personen aber implizit zu
berücksichtigten. Letzteres hat zur Folge, dass in der 42. Kalenderwoche
SPÖ und ÖVP zwar die gleichen Anteile in den Rohdaten aufweisen, die
Wahrscheinlichkeit für eine Kopf-an-Kopf-Situation aber nur 23 Prozent
beträgt. Die größte Wahrscheinlichkeit liegt bei 24 Prozent in
der darauf folgenden Woche, in der SPÖ und ÖVP in den Rohdaten zwar
wieder einige Prozentpunkte auseinander liegen, der Anteil der
NichtwählerInnen und der Nichtdeklarierten hingegen geringer ist.
Eine Schlussfolgerung ist aus statistischer Sicht jedenfalls legitim: In der
Berichterstattung über das horse race haben die involvierten Medien
mit der Zuspitzung auf die Kopf-an-Kopf-Situation dieser mehr Bedeutung
zugemessen, als es durch empirische Befunde gerechtfertigt gewesen wäre.
Im Vergleich dazu ist der über weite Strecken klaren Favoritenrolle der
ÖVP wenig Beachtung geschenkt worden.
Zitierte Literatur
Auer, Clemens Martin, Michael Fleischhacker, Hrsg. (2003): Diesmal.
Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien: Molden.
Beutelmeyer, Werner, David Pfarrhofer und Conrad Seidl (2002):
Kanzlerwahl. Demoskopische Bilanz der Nationalratswahl 2002. Linz:
Universitätsverlag Trauner.
Gelman, Andrew, John B. Carlin, Hal S. Stern, and Donald B. Rubin (2004):
Bayesian Data Analysis. Second Edition. London: Chapman & Hall.
Hofinger, Christoph, Günther Ogris und Eva Thalhammer (2003): Der
Jahrhundertstrom: Wahlkampfverlauf, Wahlmotive und Wählerströme im
Kontext der Nationalratswahl 2002. In: Fritz Plasser und Peter A. Ulram
(Hrsg.): Wahlverhalten in Bewegung, Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien:
WUV, 159192.
Pallaver, Günther und Clemens Pig (2003): Medienzentrierter
Wahlkampf: Themen und Kandidaten in der Wahlkampfberichterstattung 2002.
In: Fritz Plasser und Peter A. Ulram (Hrsg.): Wahlverhalten in Bewegung,
Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien: WUV, 5596.
Pichl, Elmar und Christian Scheucher (2003): Wahlkampf 2002. Die Kunst
der richtigen Kampagne. In: Clemens Martin Auer und Michael Fleischhacker,
Hrsg.: Diesmal. Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien: Molden, 91116.
Plasser, Fritz, Peter A. Ulram und Franz Sommer (2003):
Kampagnendynamik, Mediahypes und der Einfluss der TV-Konfrontationen
2002. In: Fritz Plasser und Peter A. Ulram (Hrsg.): Wahlverhalten in
Bewegung, Analysen zur Nationalratswahl 2002. Wien: WUV, 1954.
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